Navigation

Wohin entwickelt sich China?

China verstehen

Um China zu verstehen, muss man sich mit der Kommunistischen Partei Chinas (KP) und ihrer Sicht auf die Welt auseinandersetzen. Jahrhundertelang war China eine regionale und globale Macht, wir haben dies in unserer Ausarbeitung „Investieren in Asien“ aus dem Spätsommer 2021, die wir gerne zur Verfügung stellen, bereits thematisiert. Der Aufstieg des Westens ab Mitte des 19. Jahrhunderts brachte einen dramatischen Bedeutungsverlust mit sich, die Chinesen sprechen in diesem Zusammenhang vom „Jahrhundert der Demütigungen“, da China teilweise vom Westen kolonisiert wurde.

In den Augen der KP ist China deshalb keine aufsteigende, sondern eine zurückkehrende Großmacht. Dieses Anspruchsdenken hat zu dem Plan geführt, China bis zum Jahr 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, wieder zu einer führenden Weltmacht zu machen: politisch, wirtschaftlich und militärisch stark. Der Westen und insbesondere die USA sollen zurück gedrängt werden.

Allerdings hat China im Vergleich zu den USA Standortnachteile. Beide Länder sind in etwa gleich groß (China: 939 Mio. Hektar und USA 915 Mio. Hektar); aber die zu ernährende Bevölkerung ist mehr als vier Mal so groß wie die der USA. Der kultivierbare Teil Chinas entlang der Küsten und in deren Hinterland ist dagegen um ein Viertel kleiner, denn rund 50 % der Fläche in den nord-westlichen Teilen im Landesinneren sind zu heiß, zu kalt oder zu trocken.

Während die USA Selbstversorger sind, ist China auf umfangreiche Importe von Nahrungsmittel, Rohöl und anderen Rohstoffen wie Kupfer angewiesen. Eine Ausnahme stellen Seltene Erden dar, an deren weltweiten Vorkommen China große Anteile hat. Rund 75 % des Rohstoffbedarfs werden auf dem Seeweg eingeführt. Aus Gründen der Versorgungssicherheit muss China seine Marine aufrüsten, um die Seewege zu sichern. Das Expansionsstreben Chinas im Südchinesischen Meer wie auch die Neue Seidenstraße erscheinen dadurch in einem anderen Licht.

Demografie ist der zweite bestimmende Faktor für die Politik der KP. Ursprünglich galt das Ziel, möglichst schnell aus einem Agrarstaat eine Industriegesellschaft zu machen und dadurch Millionen Menschen in die Mittelschicht zu führen. Hierzu wurde ab 1979 die Ein-Kind-Politik eingeführt, damit errang China zunächst enorme Erfolge: So ging die Zahl der Kinder pro Familie in den letzten 50 Jahren von sechs auf eins zurück und der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank von einem Drittel im Jahr 2000 auf 12 % Ende 2019. In Deutschland sind es rund 2 %, in den USA sogar nur 1,3 %.

Die Kehrseite ist nun aber eine schlechte Altersstruktur. Während im Jahr 2000 noch zehn Arbeiter auf einen Rentner kamen, sind es inzwischen nur noch fünf. Schätzungen gehen davon aus, dass es in zehn Jahren nur noch drei sein werden.

Da China schnell altert, ist trotz der enormen Größe der Bevölkerung keine von Konsum getriebene Volkswirtschaft möglich. Deshalb müssen andere Wege eingeschlagen werden, denn das Land ist zum Erfolg verdammt.

 

Chinas wirtschaftlicher Aufschwung

Die Regierung sorgt für Wohlstand, Ordnung und Stabilität, dafür sind die Chinesen loyal zur Regierung – so sieht der chinesische Gesellschaftsvertrag aus. Dies erlaubt der KP bis heute weitreichende Einschränkungen der individuellen Freiheitsrechte durchzusetzen, da der wirtschaftliche Erfolg außergewöhnlich war.

Doch bis heute ist das staatliche soziale Netz schwach ausgeprägt, weshalb die Sparquote traditionell hoch ist. Die hohen Ersparnisse stellten die Basis für einen von Investitionen in Infrastruktur und Exportindustrien getrieben Wirtschaftsaufschwung dar. Spätestens nach dem Beitritt Chinas zur WTO Ende 2001 entwickelte sich das Reich der Mitte zur Fabrik der Welt. Möglich wurde dies bekanntlich durch zum Teil subventionierte Kostenvorteile (auch auf Kosten der Umwelt), Technologietransfer bzw. dem Kopieren bestehender Technologien sowie einer starken Nachfrage aus Europa und vor allem aus den USA.

Der Schock der Finanzkrise 2008 löste einen starken Nachfragerückgang der westlichen Industrienationen aus. Die Reaktion Chinas war ein Investitionsboom in Infrastruktur und Immobilien. Die dadurch entfachte Nachfrage nach Rohstoffen und Investitionsgüter hat seinerzeit die Weltwirtschaft aus der Depression geführt, in der Folge sind aber Überkapazitäten entstanden.

Ein Plan, die entstandenen Überkapazitäten des Landes zu nutzen, ist die Neue Seidenstraße.

Seit 2013 werden verschiedene interkontinentale Handelsrouten unter der Federführung Chinas zwischen der Volksrepublik in über 100 Ländern geplant und ausgebaut.

Vereinfacht gesagt, liefert China Planung und Ausführung durch chinesische Unternehmen. Das dafür erforderliche Kapital wird als Kredit zur Verfügung gestellt.

Das Projekt befriedigt auch das Hegemonialstreben Chinas, denn es entstehen neue Abhängigkeiten, doch dies führt inzwischen vielfach zu Ablehnung. Italien, das einzige G7 Land, das dem Projekt beigetreten ist, zieht sich sogar wieder zurück. Andere Länder ächzen unter der Last der Schulden.

Die Neue Seidenstraße dient auch der Versorgungssicherheit, so sind die neuen Handelswege alle auf die Bedürfnisse Chinas ausgelegt; aber die neu geschaffenen Strukturen bieten Wachstumschancen.

Durch jahrzehntelang beeindruckenden Wachstumsraten (siehe nachfolgende Grafik) ist China mit einem Anteil von 18,4 % zur zweitgrößten Volkswirtschaft nach den USA (25,5 %, beide Zahlen für 2022 auf US-Dollar-Basis) aufgestiegen. Kaufkraftbereinigt ist China inzwischen sogar die größte Volkswirtschaft, von den großen Volkswirtschaften wächst lediglich Indien derzeit stärker.

 

Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts China (BIP) ab 1981

(Prognosen ab 2023 bis 2028; jeweils in % gegenüber dem Vorjahr)

 

Über all die Jahre gab es Zweifel an der Richtigkeit der chinesischen Statistiken. Für die früheren Jahren weisen alternative Maßzahlen für das Wirtschaftswachstum wie die Stromerzeugung paradoxerweise sogar darauf hin, dass die offiziellen Zahlen „nach unten“ korrigiert wurden. Die heutigen Zahlen werden von vielen Experten dagegen als geschönt angesehen, obwohl sie einen rückläufigen Wachstumstrend der chinesischen Wirtschaft seit der Finanzkrise ausweisen (siehe Grafik). Dennoch sind die Wachstumsraten im internationalen Vergleich immer noch hoch.

 

Grenzen des Wachstums

Die Covid-Krise legte viele Schwachpunkte des chinesischen Wirtschaftsmodells offen. Die westliche Welt hofft bislang vergeblich auf ein großes Wachstumspaket zur Ankurbelung der Wirtschaft; aber traditionelle Stimulierungsmaßnahmen funktionieren nicht mehr bzw. machen keinen Sinn. So ist die Infrastruktur bereits mehr als ausgebaut („Brücken ins Nirgendwo“).

Die gegenwärtige Immobilienkrise zeugt ebenfalls von einem riesigen Überangebot. Zudem sind viele aktuelle Projekte zwar bezahlt, wegen der Schieflage großer Immobilienentwickler aber nicht fertig gestellt. Da die Preise sehr stark gestiegen sind, kauften viele Chinesen Immobilien aus spekulativen Gründen. Nun liegt in großen Metropolen der Preis einer Wohnung bei dem 40-fachen des verfügbaren Einkommens und in kleineren Städten ist der Leerstand sehr hoch. Erschwerend kommt hinzu, dass rund 70 % des Vermögens der Bürger in Immobilien gebunden sind – das ist doppelt so viel wie in den USA. Dies hat dazu geführt, dass der Immobiliensektor bislang direkt und indirekt für fast ein Drittel der Wirtschaftsleistung stand. Dessen Schrumpfung wird sich über Jahre hinziehen und wirkt deflationär.

Überkapazitäten sind aber nicht nur auf den Immobiliensektor beschränkt, sondern ziehen sich wie ein roter Faden durch die jüngere chinesische Wirtschaftsgeschichte. Waren es nur früher Stahl und Zement, existieren sie heute auch bei höherwertigen Produkten wie Solarpanelen und Autos.

Ähnlich spektakulär wie das Wachstum der Volkswirtschaft ist auch die Verschuldung angestiegen, so kann die Neue Seidenstraße für China zu einem Bumerang werden, wenn die Refinanzierung der Projekte ins Stocken gerät, weil die erhofften Einnahmen aus dem Betrieb der kreditfinanzierten Infrastrukturanlagen ausbleiben. So gelten inzwischen 60 % der chinesischen Auslandskredite als ausfallgefährdet.

Die Gesamtverschuldung von Staat, Unternehmen und Privathaushalten hat im Vergleich zur Wirtschaftskraft inzwischen ein Niveau erreicht, das mittlerweile dem der USA und Großbritanniens gleicht; dort ist Wirtschaftsleistung pro Kopf aber um ein Vielfaches höher. Die Verschuldung Deutschlands liegt heute noch unter diesem Niveau. China droht damit in der sogenannten „Middle Income Trap“ gefangen zu sein: Das Land wird alt, bevor es reich wird.

Eine wesentliche Rolle für die gegenwärtige Schwäche der Wirtschaft spielt die Politik der KP bzw. die Veränderung ihrer Politik. Die frühen Jahre des Aufschwungs waren von Entscheidungen in einem kleinen Team von Spitzenfunktionären der KP und pragmatischen Lösungen geprägt.

Seit Xi Jinping an der Spitze der KP steht, häufen sich indes staatliche Eingriffe. Diese haben sich noch verstärkt, seit er sich vom Primus inter Pares der chinesischen Führungsclique zum „neuen Mao“ aufgeschwungen hat. Ideologie hat wirtschaftliche Prosperität als oberstes Ziel der Politik verdrängt, in der nun innere Stabilität und politische Kontrolle die Hauptrolle einnehmen.

Bezeichnenderweise wurden Bereiche, die sich zuvor staatlicher Kontrolle weitgehend entzogen haben, strikt reguliert - auch der Technologiesektor. Politisch motivierte Maßnahmen wie die Absage des Börsengangs der Alibaba Tochter Ant und das zwischenzeitliche Verschwinden namhafter Unternehmerpersönlichkeiten wie Jack Ma untergraben das Vertrauen im In- und Ausland.

Banken werden zu einer „Finanzkultur mit chinesischen Charakteristika“ angehalten und angewiesen, verstärkt staatliche Unternehmen zu unterstützen. Deren Produktivität ist aber meist gering, so dass es zu Fehlallokationen und einem starken Anstieg der Arbeitskosten kommt. Da Chinas Aufstieg unter anderem auf subventionierten Preisen beruhte, fehlt es an Preissetzungsmacht. In der Folge wandern arbeitsintensive Industrien bereits seit Jahren in Staaten wie Vietnam und Malaysia ab.

Mit der Häufung negativer Nachrichten nahm die gewährte Transparenz sukzessive ab, unliebsame Daten wie die Höhe der Jugendarbeitslosigkeit werden nun nicht mehr veröffentlicht. Dies untergräbt das ohnehin geringe Vertrauen der Weltöffentlichkeit in die chinesische Statistik.

Der Handelskrieg mit den USA stellt einen weiteren Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung dar. Dabei ist China deutlich verwundbarer als die USA, denn sein Wohl und Wehe hängen wie hierzulande wesentlich stärker vom Export ab. In den USA ist der Konsum stattdessen mit rund 70 % Motor der Wirtschaft, in China liegt diese Zahl unter 40 % - auch deshalb ist das Handelsbilanzdefizit der USA chronisch. Andererseits ist die chinesische Wirtschaft auf amerikanische Hochtechnologie angewiesen. Dies gilt umso mehr, je stärker der Privatsektor gerade im Tech-Bereich durch die KP reguliert wird.

Ein anderer Aspekt ist übrigens die stattfindende Reduktion von US-Staatsanleihen in China und anderen Ländern, denn der Kapitalhunger der USA braucht die Nachfrage nach diesen Anleihen.

 

China und die Börse

Chinas Aktien sind derzeit die ungeliebten Kinder der Börse. Sie haben gemessen am MSCI China Index nach dem zuletzt erreichten Höchststand zwischenzeitlich rund 60 % an Wert verloren. Während die Börsen der Industriestaaten nahe der historischen Höchststände notieren, geht es für Aktien aus dem Reich der Mitte seit mehr als drei Jahren weitestgehend nur bergab (siehe nachfolgende Grafik).

 

Hatten chinesische Aktien in der Spitze noch ein Gewicht von rund 40 % am MSCI Emerging Market Index, ist dieses aufgrund der stark unterdurchschnittlichen Kursentwicklung auf derzeit 25,1 % geschrumpft. Dennoch wurde auch der Index für Schwellenländer mit nach unten gezogen.

Neben den omnipräsenten Compliance-Problemen chinesischer Unternehmen und der Unterwerfung der chinesischen Wirtschaft unter das Diktat der Politik waren auch die Verkäufe angelsächsischer Investoren in großem Stil ein wesentlicher Grund für die Schwäche chinesischer Aktien. Die US-Regierung hat noch unter Trump beschlossen, chinesische Aktien vom Handel an der US-Börse ausschließen zu können. Diese Regel wurde für dutzende Unternehmen angewandt, die aus US-Sicht vom chinesischen Militär kontrolliert sind. Daraufhin flogen sie reihenweise aus den Portfolios.

Die Fondsindustrie reagiert auf die Underperformance chinesischer Aktien in zweierlei Hinsicht:

  1. Fondsgesellschaften lancieren Fonds für Asien und die Emerging Markets, in denen sie Aktien aus China bewusst ausschließen. Der Grund hierfür sei die Nachfrage der Anleger, die China für nicht investierbar halten oder ihre China Allokation separat steuern möchten.

  2. Fondsmanager, insbesondere wenn sie stark bewertungsorientiert investieren, gewichten China inzwischen in ihren Portfolios höher als in der Benchmark. Ihrer Ansicht nach sind die Risiken mehr als eingepreist.

 

Summa Summarum

China befindet sich in einer schwierigen Phase, denn die eigene Wirtschaft leidet unter der hohen Verschuldung, Überkapazitäten und der Kontrolle. Aufgrund der Immobilienkrise ist die Stimmung vieler Privathaushalte schlecht, dies kann sogar die Gefahr bergen, dass der Gesellschaftsvertrag einseitig aufgekündigt wird. Die umfangreichen Proteste der Bevölkerung gegen die drastischen Covid-Maßnahmen der Regierung, die zu deren Beendigung führten, können als Vorbote dienen.

Zudem haben die politischen Spannungen mit den USA und dem Westen zugenommen, gleichzeitig sind strategische Partner wie Russland und Nordkorea ebenfalls wirtschaftlich angeschlagen.

Herkömmliche Maßnahmen zur Stimulierung der eigenen Wirtschaft verbieten sich, klassische Investitionsprogramme erscheinen angesichts einer im Übermaß ausgebauten Infrastruktur und einem Überangebot an Immobilien wenig Erfolg versprechend und angebotsseitige Maßnahmen wie eine Deregulierung von Märkten widersprechen der Ideologie der KP. Insofern droht die Politik der Volkswirtschaft sich jener Stärken zu berauben, die sie wieder groß gemacht haben.

China steht damit am Scheideweg. Welchen Weg die Politik einschlägt, wird auch die weitere Entwicklung chinesischer Aktien maßgeblich beeinflussen:

  • Das Diktatorenszenario:
    Präsident Xi beschleunigt seinen ideologischen Kurs. Dies verstärkt die Bedeutung unproduktiver Staatsunternehmen und schränkt die Handlungsmöglichkeiten von privatwirtschaftlichen Unternehmen weiter ein. Der Anteil notleidender Kredite und klammer Regionalverwaltungen als Spätfolgen der Immobilienkrise steigt, auch weil Banken politisch motiviert agieren (müssen). Die Folge sind Stagnation und Deflation sowie eine zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung. In einem solchen Szenario droht der chinesischen Börse ein jahrelanges weiteres Siechtum.

  • Das positive, weil – aus unserer westlichen Sicht – rationale Szenario:
    Präsident Xi lässt sich von seinem Umfeld überzeugen, wieder mehr Markt zu ermöglichen. Die Regierung toleriert oder akzeptiert, dass getan wird, was gemacht werden muss, um erfolgreich sein zu können. Dann ist China auf dem heutigen Bewertungsniveau ein absoluter Kauf.

Die Wahrheit wird – wie immer – dazwischen liegen und auch nicht sofort sichtbar werden. Unabhängig von dem ideologisch motivierten Schlingerkurs von Xi und der KP lassen sich immer mehr Erfolge chinesischer Unternehmen beobachten.